Von Hubert Brändle, der Nicole als Freund während er letzte neun Monate begleitet hat


Neun Monate

Sie wird sterben. Wir können nichts mehr für sie tun. Es tut mir leid, sagt der zuständige Arzt im Zürcher Waidspital, an einem heiss-schwülen Juli-Tag im Jahr 2000.

Die Zeugung.

28. Oktober 1999. Ich warte gelangweilt an der Kasse im Supermarkt und schmökere währenddessen in einer Illustrierten, die prominent positioniert in einem Gestell neben der langen Warteschlange darauf lauert, unmotiviert durchgeblättert zu werden. Einfach nur, um nicht nichts tun zu müssen, während man zum Warten verdammt ist. Nach einigen Seiten Klatsch stosse ich plötzlich auf einen Artikel, der mich spontan anspricht und eigenartige Gefühle in mir auslöst. Ein Artikel über eine junge hübsche Frau, die sich gerade für die kommenden olympischen Spiele vorbereitet. Sie will unbedingt einen Rekord im Schwimmen aufstellen und an den Paralympics in Sydney das Siegertreppchen erklimmen. Ich bewundere ihren Enthusiasmus. Vor allem unter Berücksichtigung ihres physischen Handicaps, welches sie sich einige Monate zuvor selber zufügt hatte. Sie hatte sich mit einem Revolver in den Kopf geschossen und verlor dabei das Augenlicht verloren. Erstaunlicherweise ist ihr auf den Fotos nichts anzusehen. Dies mag aber daran liegen, dass sie stets mit Schwimm- oder Sonnenbrille abgelichtet wurde. Sie wirkt athletisch, fröhlich und entschlossen. Das unwirkliche emotionale Spannungsfeld, das sich zwischen dem attraktiven Erscheinungsbild dieser jungen Frau, ihrem verzweifelten Suizidversuch und dem verbissenen Kampf für eine Medaille an den olympischen Spielen auftut, verursacht in mir ein tiefes Gefühl der Faszination. Ein Gefühl, wie ich es noch nie erfahren habe. Plötzlich werde ich unsanft von hinter mir Anstehenden darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Warteschlange bereits einige Meter vorwärts bewegt hat und ich gefälligst aufzuschliessen habe. Und so lege ich die Illustrierte in den Einkaufskorb und freue mich auf die spätere vertiefte Lektüre. Ich muss unbedingt mehr über diesen ebenso interessanten wie mysteriösen Menschen erfahren…


Erster Monat

Nicole ruft mich im Büro an. Ich bin nervös. Denn ich habe ihren Anruf seit mehreren Stunden erwartet. Und nun ist es soweit. Sie erwidert meine Kontaktaufnahme tatsächlich und ruft mich zurück. Vor wenigen Tagen erst habe ich ihr Buch „Ich schwimme ins Leben“ gelesen, welches sie zusammen mit Dani Schüz, einem erfahrenen Journalisten und Buchautor, geschrieben hat. Es beschreibt ihre ausserordentlich harte Lebensgeschichte, geprägt von elterlicher Gefühlskälte, perversen Heimleitern, unfähiger Justiz und mehreren Suizidversuchen. Es handelt aber auch von Hoffnung und der Sehnsucht nach Glück, Erfolg und Liebe. Ich war total fasziniert von diesem Buch und habe es innert eines Tages durchgelesen. Danach schrieb ich meine Gedanken zum Gelesenen auf und sandte diese, zusammen mit der Offerte, Nicole mit meiner sportlichen Erfahrung bei der Erreichung ihrer Wettkampfziele zu unterstützen, an den Co-Autor Dani Schüz, der gleich im Nachbardorf wohnte. Dani rief mich dann einige Tage später an und bedankte sich für meine Worte und die Bereitschaft, einen Nicole zu Gute kommenden Beitrag leisten zu wollen. Er meinte, sie könne jede Unterstützung brauchen und sei sicher aufgeschlossen für sinnvolle Tips. Er werde ihr mein Angebot sofort weiterleiten, sodass wir uns dann direkt miteinander unterhalten und die mögliche Zusammenarbeit konkretisieren könnten.

Und so sitze ich nun hier, auf meinem Bürostuhl, den Telefonhörer in der Hand, aufgeregt. Nicole will zuerst von mir wissen, was denn „Hubert“ für ein Name sei. Diesen habe sie noch nie gehört. Und sie fände ihn auch ziemlich peinlich. Ich bin verblüfft ob so viel Direktheit, finde es aber auch sehr erfrischend, mit einer fremden Person verbal gleich auf den Punkt zu kommen. Sie hört sich äusserst aufgeweckt und sympathisch an, mit einer sehr femininen, aber auch festen, entschlossenen, Stimme. Jedenfalls alles andere als verzweifelt, depressiv und suizidal. Wir sprechen etwa eine halbe Stunde über Gott und die Welt, ohne auf das eigentliche Thema, ihre sportlichen Ziele, zu kommen. Und so beschliessen wir spontan, uns am Tag darauf im Schwimmbad in Oerlikon, in dem sie täglich trainiert, zu treffen und alles weitere zu besprechen…


Zweiter Monat

Erst vor ein paar Wochen haben wir uns zum ersten Mal getroffen, und heute spricht Nicole bereits von mir als „Hubi, mein Freund“. Der Name Hubert ist ihr, wie erwähnt, zu peinlich, sodass sie sich entschlossen hat, meinen früheren Spitznamen zu verwenden. Und mit „Freund“ meint sie tatsächlich mich als ihren Lebenspartner. Wie ist das bloss geschehen? Eigentlich wollte ich mich ihr ja nur als Fitnesstrainer zur Verfügung stellen und sie bei der Erreichung ihrer sportlichen Ziele unterstützen. Oder? Natürlich, eine tiefgehende Faszination habe ich für sie seit dem ersten, medialen Kontakt mit ihr empfunden. Aber eine ernsthafte Beziehung? Mit einer Blinden, Suizidalen, acht Jahre Jüngeren? Surreal. Aber ich bin selbst dafür verantwortlich. Schliesslich habe ich mich bei ihr gemeldet. Und schliesslich habe ich mich bereits wenige Tage nach unserem ersten Zusammentreffen bereit erklärt, mit ihr ins Bett zu steigen. Zugegeben, der Sex mit ihr ist göttlich. Und es scheint, als ob wir beide dem anderen etwas geben können, das er in Liebesdingen sucht. Es ist aber nicht nur das. Sie fasziniert mich als Ganzes. Ihre fatalistische Art zu leben. Und zu sterben. Keine Kompromisse. Alles oder nichts. Nur, so faszinierend die Situation ist, so sehr irritiert sie mich auch und hält mich weitgehend davon ab, meine beruflichen Ziele weiter zu verfolgen. Schliesslich habe ich erst vor kurzem die Geschäftsleitung unserer familieneigenen Immobilienunternehmung übernommen und bin an der Umsetzung des eigens erstellen Businessplans, der die Firma zu neuen Erfolgen führen soll …


Dritter Monat

Ich stelle fest, dass Nicole viel weniger an unserer Zusammenarbeit im sportlichen Bereich interessiert ist, als an der Entwicklung unserer intimen Beziehung. Immer wieder lässt sie Trainings ausfallen und verhält sich generell undiszipliniert. Sie hat sich nun in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden. Dies wohl aufgrund ihrer erfolgreichen Auftritte in verschiedenen Talkshows, welche sie als Werbeplattform für ihr Buch nutzt. Kürzlich begleitete ich sie nach Berlin, wo sie bei ProSieben einen Auftritt in der Talkshow „Arabella“ hatte. Ich muss sagen, ich bin schon beeindruckt, wie zielstrebig sie ihr Buch vermarktet und wie gut sie bei den TV-Sendern und ihren Zuschauern ankommt. Nach jeder Sendung kriegt sie tonnenweise Fanpost, welche ich ihr dann jeweils – selektiv – vorlese. Sie ist definitiv äusserst telegen und verströmt den ihr eigenen Charme, welcher die Zuschauer, genau wie mich, auf eine besondere Art fasziniert. Sie spricht mit feiner, aber sehr klarer Stimme und nimmt bei keinem Thema ein Blatt vor ihren wohlgeformten Mund. Sie ist frisch, frech. Das gefällt den Menschen. Während ich mich mit der Situation ziemlich überfordert fühle und mich oft frage, was das alles soll und welche Rolle ich dabei tatsächlich spiele. Instrumentalisiert sie mich? Oder instrumentalisiere ich sie? Instrumentalisieren wir uns gegenseitig? Das gemeinsame Fitnesstraining hat inzwischen nur noch Alibicharakter und verliert zusehends an Relevanz. Auch das Schwimmtraining nimmt Nicole nicht mehr sehr ernst – und verärgert damit ihren Trainer, der schon mit Trainingsabbruch gedroht hat …


Vierter Monat

Ich besuche Nicole regelmässig an den Wochenenden bei ihr zu Hause in Zürich Seebach und führe täglich lange Telefongespräche. Sie ist äusserst einnehmend, impulsiv und unberechenbar. Sie wünscht sich, mit mir zusammen in eine Wohnung zu ziehen. Am liebsten in meine Vierzimmer-Dachwohnung in Steinhausen, wo sie sich sichtlich wohl fühlt. Ich habe je länger desto mehr Schwierigkeiten, ihr klar zu machen, dass ich aufgrund meines starken Unabhängigkeitsdrangs und weiteren zwischenmenschlichen Problemen eine feste Beziehung mit allem drum und dran als unrealistisch erachte. Dies wiederum frustriert sie in hohem Masse, was immer wieder zu tragischen Szenen führt. Sie fühlt sich ungeliebt und unverstanden. Und ich fühle mich machtlos, irritiert und überfordert. Obwohl, ich glaube, ich liebe sie, wenn auch auf eine sehr spezielle Art. Während sich Nicole immer mehr von ihrem ursprünglichen Ziel, der Teilnahme an den olympischen Spielen, distanziert, leidet meine unternehmerische Funktion als Geschäftsleiter – und somit die geplante Unternehmensentwicklung – zusehends. Meine Mitarbeiter fragen sich, was das alles soll und verlangen, wenn auch meist stillschweigend, nach mehr Engagement von meiner Seite. Mein Vater, der Verwaltungsratspräsident des Firmenkonglomerats, zu dem die mir anvertraute Immobilienunternehmung gehört, gibt mir auch in regelmässigen Abständen zu verstehen, dass sich die Situation verändern muss. Und natürlich spüre ich den ständig zunehmenden Zugzwang unmissverständlich…


Achter Monat

Der Druck ist kaum noch auszuhalten. Nicole hat schon mehrmals mit Suizid gedroht. Auch gegenüber Angehörigen und Freunden erwähnt sie ihren wiederaufflammenden Wunsch zu sterben des Öfteren. In einem kürzlich durchgeführten Fernseh-Interview mit Tele24 bezeichnete sie ihre Lebenssituation als „trist“ und „hoffnungslos“. Ich spüre, dass Nicole mir gegenüber nicht mehr offen und ehrlich ist und öfters mit mir unbekannten Leuten „konspirative“ Treffen vereinbart. Ich befürchte das Schlimmste. Eine vor wenigen Tagen durchgeführte Gartenparty bei Nicoles Co-Autor, Dani Schüz, in Cham kommt mir vor wie eine Abschiedsfeier, an der sie von ihren engsten Freunden Abschied nimmt. Wir versuchen zwar noch, sie aufzumuntern, doch spüren wir das nahende unausweichliche Drama. Alle scheinen überfordert. Keiner kennt die Lösung…


Die Ent-Bindung

28. Juli 2000. 07.10h. Ich versuche, Nicole telefonisch zu erreichen. Ich habe tief in mir drinnen ein starkes, äusserst ungutes, Gefühl. Ich erreiche sie nicht. Zum ersten Mal. Ich rufe ihre Schwester Marion an. Sie weiss auch nichts, ist aber, wie ich, höchst beunruhigt. Ich beschliesse, sofort nach Zürich zu fahren, um nachzusehen, was los ist. Auf der Fahrt mache ich mir grosse Sorgen und fühle mich einem Nervenzusammenbruch nahe. Hat sie es tatsächlich getan? Hat Nicole ihre Drohungen wahr gemacht? Hat sie …? Ich stelle mein Auto auf den Parkplatz vor dem Haus, in dem sich ihre Dreizimmerwohnung im ersten Obergeschoss befindet. Die Rollläden sind oben, ein Fenster im Schlafzimmer geöffnet. Ungewöhnlich. Ich haste ins Treppenhaus und läute. Nichts. Dann klaube ich den Wohnungsschlüssel, den ich seit Monaten bei mir trage, aber nie benutzt habe, aus meiner Hosentasche und öffne die Wohnungstüre. Glücklicherweise hat sie die Türe nicht von innen verriegelt. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Entsetzens und der Gewissheit, dass sich mein Leben innert Sekundenbruchteile für immer verändern wird, betrete ich ihr Schlafzimmer…



Nicole Deck, 06.12.1977 - 29.07.2000


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